Nachlese Vorwort der Maturazeitung:
Beim Verfassen eines Artikels für die Maturazeitung brauche ich meist überdurchschnittlich lang, bis mir die passenden Worte einfallen. Einerseits weil die Bitte nach ein paar Zeilen in den Sommermonaten sehr lange ganz oben auf der Erledigungsliste stehen bleibt und andererseits, weil in der Ferienzeit eine Distanz besteht, in der sich keine Kommentare tagesaktueller Banalitäten aus dem Schulbetrieb abgeben lassen.
Um es auf den Punkt zu bringen, was eueren Jahrgang auszeichnet: 1993 habe ich an der HLA zu unterrichten begonnen und noch nie einen Jahrgang erlebt, in dem innerhalb der Klasse Schülerinnen und Schüler so viel voneinander gelernt haben und auch wir Pädagoginnen und Pädagogen von euch.
In einem Vortrag Anfang September in einer Fortbildungsveranstaltung hat der Referent uns Anwesende gefragt, ob wir wüssten, welche berufliche Funktion Pädagogen im alten Griechenland gehabt haben. Niemand hat es gewusst. Die Antwort: Der Pädagoge war der Sklave, der Schülerinnen und Schüler vom Heimathaus zum Lernort gebracht hat. Heute erledigen das die Öffis.
Die sozialen Rahmenbedingungen haben sich seither zum Glück geändert und der Pädagoge hat eine andere Funktion. Aber was gleichgeblieben ist, ist die Schule als Ort des Lernens, des Wissenserwerbes. Die zweite Frage, die der Referent gestellt hat, war, ob wir wüssten, wie Lernen physiologisch funktioniert. Das Auditorium aus akademischen Zuhörerinnen und Zuhörern war sich nicht einig. Der Referent klärt auf: Lernen entsteht aus Versuch und Irrtum, aus positiven Erfahrungen und der Erfahrung des Scheiterns. Durch diese individuellen Erlebnisse entstehen chemische Transmitter, die zu einer Neuorganisation unserer neuronalen Netzwerke führen, die letztendlich das Wissen speichern, auf dem Verständnis und Urteilsvermögen aufbaut. Vielleicht ist das das Erfolgsgeheimnis euerer Klassengemeinschaft, dass ihr euch die Latte selbst immer wieder sehr hoch gelegt habt und euch so aus dem Erreichten positive Lernerfahrungen geholt habt und dabei auch den Umgang mit dem Scheitern kennengelernt habt.
Einen dritten Merk-Punkt dieses Referenten möchte ich auch noch zur Vermessung euerer Klassengemeinschaft heranziehen: In allen Lehrplänen steht der Erwerb von Kompetenzen als Parameter für Messbarkeit des Unterrichtserfolges. Kompetenz im wörtlichen Sinn bedeutet jedoch die Fähigkeit, sich gegenüber anderen durchzusetzen. In einem menschlich wesensgerechten Lehrplan sollte besser „Potential“ stehen, weil dieser Begriff besser das Miteinander und Füreinander im Prozess des Wissenserwerbes ausdrückt. Meine Hypothese für den Erfolg euerer Klasse ist, dass ihr euch stark wechselseitig beim Entwickeln euerer Potentiale in den unterschiedlichsten Phasen der Schullaufbahn bis heute unterstützt habt – beim Lernen auf Schularbeiten und Prüfungen, in den vielen erfolgreichen Projekten, in der gemeinsamen Mitarbeit, bei euerem außerschulischen Engagement, bei euerer Risikobereitschaft neues auszuprobieren und dabei auch mit dem Scheitern umgehen zu lernen.
Euer Ziel ist jetzt fürs erste der erfolgreiche Abschluss eurer Schullaufbahn mit der Matura. Unser Ziel als Pädagogen und Wegbegleiter ist es, auf eurer kurzen gemeinsamen Lebensstrecke mit euch eine Vielzahl von Lernerfahrungen anzubieten, mit denen ihr dieses Ziel erreicht.
DI Josef Winter
Schulleiter
…. das alles ist jetzt Geschichte